Der Alltag mit und ohne Enneagramm.
„Ist ja alles schön und gut, aber was fange ich jetzt damit an?“
Ein paar persönliche Antworten auf diese Frage.
Ich war von einer Freundin zu einem Enneagramm Einführungsabend eingeladen worden. „Ist ja alles ganz nett, aber was bringt mir das?“, diese Frage stellte eine Frau, die mir gegenüber saß. Das war 2006 und ich kann mich noch genau erinnern, dass ich völlig perplex war, warum sie das nicht erkennen konnte. Alles was ich die letzten 90 Min. gehört hatte, faszinierte mich. Meine ganze Familie ergab plötzlich Sinn. Meine Mutter, mit ihren „Kind, pass bloß auf …“-Geschichten. Warum meinem Vater Unabhängigkeit einfach alles bedeutet. Weshalb meine Schwester grundsätzlich nicht das will, was andere wollen. Und warum ich keine Ruhe geben kann, solange ich noch irgendwo Verbesserungsvorschläge zu bieten habe.
In erster Linie war es sehr erleichternd zu hören, dass das alles „normal“ ist.
Es handelt sich um menschliche Grundeigenschaften und jeder von uns hat sich aus bestimmten Gründen auf seine Art „spezialisiert“.
1. Antwort auf die oben gestellte Frage: Ich kann mich entspannen. Ich bin mit meinem „Problem“ nicht allein. Millionen von Menschen weltweit geht es wie mir.
Weiter erinnere ich mich, wie präzise und genau die Aussagen der neun unterschiedlichen Enneagramm Muster waren. Wie ich mich angesprochen fühlte, dass Menschen des Musters EINS Ideale vertreten und die Welt zu einem besseren Ort machen wollen.
2. Antwort: Ja, ich gehe meiner Umwelt manchmal auf die Nerven, bekomme Gegenwind und ecke an, doch der Hintergrund ist versöhnlich. Und es braucht Idealisten in dieser Welt!
Ebenso erstaunlich, die Beschreibung der Stelle, wo ich mir selbst im Wege stehe, wenn ich imaginär und emotional plötzlich in (m)eine Opferrolle falle und die ganze Welt sich gegen mich verbündet hat. 3. Antwort: Das Enneagramm beschreibt mir nicht nur meine offensichtlichen Charakterzüge, die mir selbst und meiner Umwelt gut vertraut sind. Es liefert mir Klarheit in bislang verwirrende Widersprüche. Die Irritationen („Was ist denn los, so kenne ich mich ja gar nicht!“) bekommen ihren Platz und verlieren an Gewicht.
Die neun verschiedenen Blickwinkel aufs Leben und die Welt war für mich, als ob ein Vorhang sich öffnet. Kurz und präzise neun verschiedene Logiken zu erkennen, war das Offenlegen des seit Jahren andauernden Konfliktes zwischen meiner Schwester und meiner Mutter. Jede Familie hat ihre Familiengeschichten, ob nun offensichtlich ausgetragen oder eher als „rosaroter Elefant“ ignoriert. Die Dynamiken sind überall am Arbeiten - bewusst und unbewusst!
4. Antwort: Das Enneagramm zeigt Ursachen für Missverständnis, Spannung und Streit. Im privaten, wie im beruflichen Umfeld. Gründe, die sich einem in der eigenen „Alltags“-Logik nicht erschließen, weil sie weder rational noch logisch nachvollziehbar sind.
Last, but not least! Gegen Ende des Abends die Information zu bekommen, dass das Enneagramm nicht nur beschreibt, erklärt und definiert, sondern auch Auswege anbietet. Dass dieses Modell mir für meine Automatismen Alternativen anbietet, um situationsbedingt auch mal andere Reaktionen, Lösungen und Wege wählen zu können.
5. Antwort: Vielleicht die beste Nachricht! Wenn ich nicht immer und immer wieder in dieselben Fallen tappen will, z.B. überzogener zeitfressender Perfektionismus, oder Lebens-Schleifen drehen will, z.B. mich schnell zu langweilen und damit immer eine Art Unruhe und Getriebenheit nach Neuem zu empfinden… Wenn ich diesen Tendenzen etwas entgegensetzten will, um mehr Gelassenheit und Ruhe in mein Leben bringen zu können, dann gibt mir dieses Modell eine Checkliste an die Hand, wo sich gerade mein blinder Fleck besonders verdunkelt hat.
Heute empfinde ich diesen Abend noch immer als „einschneidend“. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen „Es hat mein Leben verändert!“, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass mein Leben ist, wie es ist und sich ständig verändert. Was ich jedoch mit Sicherheit sagen kann ist, dass ich mit meinen Empfindungen, Gedanken und Impulsen anders umgehe. Sie greifen weniger in meine Entscheidungsprozesse ein, dafür kenne ich die immer wieder ablaufenden Raster zwischenzeitlich viel zu gut. Ich bin immer noch die gleiche, aber manchmal kann ich - sehr entspannt - auch anders!
Letzter Punkt für heute, denn ich hätte noch viele Antworten auf die Frage: „Ist ja alles schön und gut, aber was fange ich jetzt damit an?“
Mit Blick auf mich selbst: Das Enneagramm war mir die letzten 15 Jahre ein persönlicher Leitfaden, um „Herr in meinem eigenen Haus“ zu werden. Selbsttäuschungen aufzudecken, wo ich definitiv keine vermutet hätte und ich immer mehr aus meinem selbstgebastelten (oder mir aufgetragenen) Rollen ausgestiegen bin. Ich fange an, mich wohl in meiner Haut zu fühlen. Nicht immer, aber immer öfter.
Mit Blick auf mein Umfeld: Ich muss nicht mehr jeden Kampf, um „falsch oder richtig“ führen. Andere Wege führen gleichfalls nach Rom, was meine Partnerschaft ziemlich entspannt, das Verhältnis zu meinen Kindern inniger macht und meine Kollegen dankbar aufatmen lässt. Ich empfinde die größte Dankbarkeit, das Enneagramm zu kennen, mit Blick auf meine Kinder. Ich war und bin viel mehr in der Lage sie begleiten zu können, als dem Drang folgen zu müssen sie irgendwohin zu (er)ziehen.
Meine Arbeit mit dem Enneagramm hat es mir auch ermöglicht, Menschen aus der ganzen Welt zu treffen. Zu sehen und zu erleben, wie überall das Enneagramm Menschen fasziniert und anzieht. Ja, es gibt große und kleine kulturelle Unterschiede, aber im Grunde sind wir alle gleich. Egal, ob wir aus Asien, dem Nahen Osten, Europa, Nord oder Südamerika kommen, Menschen sind Menschen, woher sie auch stammen. Vielleicht ist diese letzte Antwort, die beste und wichtigste auf die Frage „Und jetzt? Was fange ich damit an?“
Vielleicht erst einmal gar nichts! Mal nicht sofort mit „Ja, aber…“ daher kommen, sondern Luft holen, sacken lassen und verdauen, dass manches, was für mich bislang in Stein gemeißelt war, u.U. auch anders sein könnte. Das Enneagramm löst starre Glaubenssätze, macht nachdenklicher, toleranter und menschlicher. Es spiegelt und versöhnt uns mit unserer menschlichen Natur!
Ist das nicht reizvoll? Für jeden von uns?
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