"Aber Selbsterforschung ist meist schon der erste Schritt zur Wandlung, und ich erfuhr, dass niemand ganz der bleibt, der er war, indem er sich erkennt."
Thomas Mann
Das Enneagramm beschreibt neun typisch menschliche Verhaltensweisen, Gefühlswelten und Logiken. Wer wir tatsächlich sind, geht weit über diese Beschreibungen hinaus. Und doch hilft die Auseinandersetzung mit diesem Modell, unsere Menschenkenntnis zu vertiefen. Es erleichtert uns die Orientierung im Dschungel der zwischenmenschlichen Befindlichkeiten.
In all dem Facettenreichtum unserer Persönlichkeit zeigt uns das Enneagramm, welche der beschriebenen Charakterstrukturen wir als eine Art “Best-of” für uns gewählt haben. Es war vermutlich irgendwann einmal genau diese Strategie, die uns besonders gut geholfen hat. Weshalb sollten wir etwas Bewährtes nicht beibehalten?
Jeder greift in seinem Alltag auf alle neun Strategien zurück, auf die einen mehr, auf andere weniger. Wenn es für uns eng wird, verlassen wir uns aber lieber auf diese eine, deren Mechanismen und Regeln uns vertraut sind und auf die wir uns verlassen können. Sie hat schon immer gut funktioniert, weshalb nicht auch jetzt? Von all dem bekommen wir bewusst nichts mit, es geschieht ganz automatisch. Daher sprechen wir an dieser Stelle auch immer wieder von Automatismus.
Es ist der eigentliche Zweck der Mustersuche, das Erkennen dieser automatisch ablaufenden Reaktionsmuster, um dann wählen zu können. Will ich es wie immer machen? Oder probiere ich etwas Neues aus?
Es geht somit bei der Suche nach unserer bevorzugten Strategie, um diese “Best-of”-Tendenz, um sagen zu können, welcher Enneagrammtyp auf einen selbst oder eine andere Person zutrifft.
Meine erste Lektüre zum Enneagramm war das Buch von Wilfried Reifarth “Das Enneagramm”. Die Beschreibung der EINS war, als ob ich in einen Spiegel schauen würde. Es passte einfach alles. Es war nicht alles schön und angenehm, was ich das las! An manchen Stellen musste ich wirklich schlucken.
Ich kenne einige, denen es ebenso ergangen ist. Ich kenne ebenso viele, die sehr lange gesucht, erforscht und ausprobiert haben, bis sie sich “Zuhause” gefühlt haben. UND, ich kenne Menschen, die sich festgelegt haben, aber lieber nochmal auf die Suche gehen sollten. Vielleicht denkt jetzt der eine oder andere, wenn das alles so ein durcheinander ist, weshalb soll ich mir das antun? Weil das Ergebnis nur die eine Seite der Medaille ist. Der eigentliche Suchprozess ist ebenso sinnvoll, wichtig, wertvoll und aufschlussreich.
In meiner Ausbildung hatten die sogenannten Instinkte keine Priorität. Doch die Arbeit von Mario Sicora und den Instinctual Biases hat mich tief geprägt und führt mich heute zu dem Schluss, dass ein Wissen um diese Biases, für den Suchprozess ausschlaggebend sein kann.
Ähnlich einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, gilt es eine erste Hypothese zwar zuzulassen, doch dann Gegenbeweise zur eigenen Hypothese zu suchen. Es geht um das Erforschen, Beobachten und Bestätigen oder Revidieren. Ob Instinctual Bias oder Strategie, der häufigste Fehler ist, ein bestimmtes Merkmal als vermeintlichen Beweis zu erachten.
Immer wieder erlebe ich, dass jemand aufgrund seines “Gefühls” sich einer der neun Typen zuordnet. Ein erstes Gefühl als Hypothese heranzunehmen ist wunderbar, aber sollte durch Fakten untermauert werden.
Ein Beispiel: Die Beschreibung an Punkt vier im Enneagramm, definiert einen Charakter u.a. als “kreativ”. Wenn Anna beschließt, jedem ein besonderes Geschenk zu Weihnachten selbst zu machen und sie in der Adventszeit viel bastelt, malt und näht, kann das ein Beweis für Annas Kreativität sein, aber es ist nicht zwangsläufig der Beweis, dass auf Anna Muster VIER zutrifft. Viele Menschen basteln um diese Jahreszeit!
Wenn ein IT-Spezialist mit Begeisterung, Beharrlichkeit und Akribie programmiert, ist Muster VIER nicht unbedingt das erste Muster, was mir einfällt. Meine vorgefasste Meinung über IT-Spezialisten verleitet mich eher an andere Muster denken. Wenn ich jedoch von einem Kollegen erfahre, wie ausgefallen und einzigartig seine Programme geschrieben sind, dann ist das ein Hinweis auf Kreativität im Sinne des Musters VIER.
Eine Kollegin hat einmal in der ersten Pause eines dreitägigen Enneagramm-Trainings zu mir gesagt: “Herr Meier ist definitiv eine ACHT, mein Sohn ist eine ACHT und ich kenne dieses Muster besser als jedes andere. Ich kann es förmlich riechen, wenn jemand eine ACHT ist.” Hmmm … am Ende der drei Tage hatte sich Herr Meier ziemlich glaubwürdig in der Welt des Musters DREI wiedergefunden. Sie war ihrem Confirmation Bias (zu Deutsch: Bestätigungsfehler oder Bestätigungsverzerrung) in die Falle gegangen.
Wenn wir auf der Suche nach unserem Enneagrammtyp sind, steht uns unser “Confirmation Bias” häufig im Weg. Unser Gehirn kann ziemlich schnell Bestätigungen finden, um unsere Meinung zu untermauern. Es filtert dabei aber leider mögliche Gegenbeweise einfach raus. Was zu einem unzutreffenden Ergebnis, bzw. in unserem Fall zu einem falschen Muster führen kann.
Es dient dem Findungsprozess zu schauen, ob, wo und wie eine Behauptung widerlegt werden kann. Dafür braucht es nachweisliche Fakten und Bedingungen, die überprüfbar sind, die zeigen können, dass eine Annahme oder Behauptung zutrifft oder falsch ist. Das einfachste Mittel ist, zu schauen, was eine Person tatsächlich macht. Eine weitere Hilfestellung ist, Menschen im näheren Umfeld zu befragen.
Wenn Herr Schmidt sich als Typ ZWEI im Enneagramm wiedererkennt, weil er sich selbst als besonders freundlich, verständnisvoll und hilfsbereit sieht, dann sind das zentrale Merkmal des Musters ZWEI. Ok, es ist gut möglich, dass Herr Schmidt diese Charaktereigenschaft tatsächlich ausgeprägt besitzt und lebt. Ich kann das als Coach oder Trainer nicht widerlegen, wenn ich Herrn Schmidt seit einer Stunde kenne. Doch, wenn ich dann sehe, dass Herr Schmidt am Buffet seinem Kollegen gerade das letzte Stück Kuchen wegschnappt, er sich in jeder Pause alleine hinter einem Buch verschanzt und am Abend ohne ein Wort aus dem Raum stürzt, dann weiß ich, dass hier eine Kluft zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung vorliegt. Vielleicht gab es während des Tages besondere - mir unbekannte - Gründe für das jeweilige Verhalten, doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Herr Schmidt eventuell auch einem anderen Enneagrammtyp zugehörig sein könnte. Im Stillen, fange ich also an mehr Informationen zu sammeln, Hypothesen aufzustellen und wieder zu verwerfen, Fragen zu stellen und erforsche einfach, was zutrifft und was nicht.
Fehlende Geduld, Pauschalisierungen und der verständliche Wunsch nach einer schnellen Antwort sind gängige und sehr menschliche Stolpersteine auf dem Weg der Musterfindung. Auch Enneagramm-Lehrer sind davor nicht gefeit und können sich täuschen.
Was hier wirklich zutrifft, ist das Sprichwort: “Der Weg ist das Ziel!” Und, wie Thomas Mann anmerkt, ist das Erforschen per se bereits der erste Schritt zur Wandlung.
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