Das Enneagramm bedient verschiedene Ebenen, Bedürfnisse und liefert Antworten in unterschiedlicher Art. Es ist genau das, was ich am Enneagramm so ungemein wertschätze. Es kommt darauf an, was Du willst!
Was ich immer wieder höre, beobachte und sehe, ist die Unfähigkeit, diese Ebenen trennen zu können. Schlimm und gefährlich wird es, wenn jemand bewusst die Ebenen vermischt. Das Enneagramm benutzt, um absurde und nicht haltbare Versprechungen zu machen. z.B. Partnerwahl - Welcher Typ zu welchem passt. Welche Position in Unternehmen von welchem Enneagrammtyp besetzt werden sollte. Oder die passende Geldanlage für jeden Enneagrammtyp. Das dümmste Workshop-Angebot, welches ich in letzter Zeit gesehen habe.
Warst Du schon einmal in einen Rechtsstreit verwickelt?
Ja? Dann hast Du sicherlich die „Es kommt darauf an!“-Erfahrung gemacht. Vor Gericht geht es um die Auslegung unserer Gesetze. Die eine Partei legt Paragrafen so aus, die andere so, und am Ende entscheidet ein Richter. Was dazu führt, dass Rechtsempfinden und Rechtsprechung weit auseinander liegen können.
Mit dem Enneagramm verhält es sich ähnlich. Die Frage, ob es gut oder schlecht ist, was es kann / nicht kann, wozu es dient / nicht dient oder wie, wo, wann man es anwendet ist mit „Kommt darauf an!“ erst einmal sehr gut beantwortet. Was natürlich den Fragenden unzufrieden hinterlässt und selbstverständlich auch keine Antwort per se darstellt. Für eine befriedigendere Antwort braucht es mehr Details, wonach jemand überhaupt sucht. Wofür oder wogegen er eine Lösung haben möchte. Das Enneagramm per se löst gar nichts, so wie ein Kochbuch nicht satt macht. Ob es uns dient, kommt darauf an, wie wir es studieren, verstehen und anwenden. Erst dann sollten wir entscheiden, oder ein Urteil fällen.
Zu wissen, was wir wollen, ist bereits eine erste Schwierigkeitsstufe. Wir wissen meist ziemlich genau, was wir NICHT wollen. Wir wollen weg von etwas oder jemandem … weg aus dem anstrengenden Job, weg vom ignoranten Chef, weg vom verständnislosen Partner, weg von den lieblosen Eltern etc. Es liegt in unserer Natur, dass wir aus „unangenehm“ rauswollen, in der Hoffnung, dass sich dann „angenehm“ automatisch einstellt. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! Das kann klappen, oft genug rutschen wir aber irgendwann wieder in eine ähnliche Wiederholungsschleife. Der neue Chef ist auch doof, der nächste Partner versteht mich auch nicht etc. und immer haben wir passende Geschichten, die alles untermauern, bestätigen und rechtfertigen.
Der kleine Haken liegt bei „automatisch“! In unseren Beziehungen, zu anderen oder zu uns selbst, entwickelt sich eher selten etwas „automatisch“. Es braucht eine sehr bestimmte Form von Verstehen, um Zusammenhänge zu erkennen, wo wir bislang keine vermutet haben. Es braucht die Fähigkeit einer wertfreien Innenschau. Es braucht einen besonderen Willen, eine Entschlossenheit, ehrlich mit sich zu sein. Es braucht die Tatkraft, tatsächlich zu tun und zu handeln. Ja, und es braucht eine bestimmte Form der Leidensbereitschaft. Loslassen kann weh tun. Ent-Täuschungen aufdecken, kann weh tun. Seine Schattenseiten anzuschauen, kann weh tun. Eigene Fehler zu bekennen, kann weh tun. Die Ernüchterung kann weh tun. Gleichzeitig kann es ungemein erleichternd sein, den ganzen Ballast aus dem Rucksack zu nehmen und mit leichtem Gepäck weiterzureisen.
Es geht um innere Prozesse, die, wenn angestoßen, uns die Möglichkeit geben aus „unangenehm“ herauszutreten, um in „angenehm(ER)“ hineinzuwachsen. Aber das passiert nicht mit einem großen Schritt, sondern über viele kleine Etappen. Unsere Natur, unsere Psyche, unser Gehirn sind schlicht nicht in der Lage, das in einem einzigen großen Schritt zu schaffen.
Es fällt uns leichter, im Außen zu bleiben. Es ist einfacher den Umständen, den Anderen, dem Leben, der Kindheit … die Schuld zuzuweisen - was immer unter „Schuld“ verstanden werden will. Hinzu kommt eine zutiefst menschliche Tendenz, lieber in kurzfristigen „Wenn-Dann“- Absolutheiten zu denken, zu empfinden oder zu handeln. Damit reicht dann der Blick aber auch nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze. Manchen reicht das, anderen nicht.
Es kommt also darauf an, was wir wollen.
Das Enneagramm als Persönlichkeitsmodell kennenzulernen, ist nicht sonderlich kompliziert. Jeder kann sich die Beschreibungen der neun Charakterstrukturen anlesen. Es ist auf dieser Stufe möglich zu verstehen, dass „anders“ schlicht „anders“ heißt und nicht „besser“ oder „schlechter“. Das ist bereits ein erster Schritt zu mehr Akzeptanz, Toleranz und vielleicht sogar einem netteren zwischenmenschlichen Umgang.
Die Falle an dieser Stelle ist, das Enneagramm als Rechtfertigung heranzuziehen und als Bestätigung zu benutzen. Schwierig!
In einem zweiten Schritt kann einem das Enneagramm aufzeigen, wo unsere Persönlichkeit Stärken aufweist und wo die Schwachstellen zu finden sind. Auch hier ist es nicht zwingend notwendig, sonderlich tief einzusteigen. Es ist keine Raketenwissenschaft, diese kognitive Leistung zu erbringen und mit sich mal in Klausur zu gehen oder Verständnis für das Verhalten anderer aufzubringen. Jeder hat seine Themen - „Nobody is perfect!“. Diese Form der Arbeit mit dem Enneagramm kann eine positive und bereichernde Reflexion auslösen, um mit sich gnädiger zu werden und mit anderen friedvoller umzugehen. Die Falle hier ist, diese Stufe zu überschätzen. Erkennen bedeutet nicht automatisch (da haben wir es wieder!) verändern. Manch einer glaubt hier bereits tiefe innere Arbeit zu leisten, dabei ist es nur eine mechanische Anwendung der von diesem Modell beschriebenen zwischenmenschlichen Gesetzmäßigkeiten.
Auf der nächsten Stufe wird das Enneagramm zum Ausgangspunkt, von dem aus die eigentliche persönliche und individuelle innere Arbeit beginnt. Hier wechseln wir vom Handwerker zum Künstler. Es ist die Ebene der wahrhaftigen Neugier und 24/7 Selbsterforschung. Es ist das Training, welches die alten Traditionen über ihren Weg lehren und was Gurdjieff als 4. Weg beschreibt. Es ist der Weg des geistigen Wandels, der Transformation oder, wenn man so will, der spirituelle Weg. Er ermöglicht uns, unsere menschliche Natur zu akzeptieren. Er lässt uns erkennen, wer wir tatsächlich sind und erlaubt uns Frieden mit unserer Lebensgeschichte, mit unseren Eltern, mit unserem Partner etc. zu schließen. Dieser innere Friede bewirkt, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen können, mehr im Hier & Jetzt sein können. Er befähigt uns nicht mehr in jeden Ring zu steigen, in den wir vom Leben, vom Chef, vom Partner … eingeladen werden. Wir sparen diese Energie ein und können sie an anderer Stelle freisetzen, andere Fähigkeiten entwickeln, stärken und zum Ausdruck zu bringen.
Die Falle an dieser Stelle ist dem Trugschluss zu unterliegen „ES“ geschafft zu haben. Alles verstanden zu haben und angekommen zu sein. Wir rutschen in eine Form von Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit und erheben uns über andere.
Wenn ich etwas will, was ich noch nicht kann, kommt am Ende nichts Gutes dabei raus. Wenn ich etwas will, aber nicht bereit bin dafür das Notwendige zu tun, dann ist es besser es sein zu lassen.
Das Enneagramm kennen und enneagrammatisch arbeiten, dazwischen liegen Welten!
Es kommt darauf an, wie weit Du gehen willst!
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